MdB Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik

Interview mit Filiz Polat

Filiz Polat ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Darüber hinaus ist Filiz Polat Obfrau im Innenausschuss und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.

Für An-Nusrat stand Frau Polat Rede und Antwort – nochmal herzlichen Dank dafür.

 

Frage:

Liebe Frau Polat, Sie sind Bundestagsabgeordnete, Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Obfrau im Innenausschuss des Deutschen Bundestages. Alles Begriffe und Titel, die man hier und da schon gehört hat. Wir möchten gerne wissen: Wie sieht Ihr „gewöhnlicher“ Arbeitsalltag aus (gibt es so etwas überhaupt?) und mit welchen Themen beschäftigen Sie sich?

Frau Polat:

Mein Arbeitsalltag ist durch die unterschiedlichen Themen jeden Tag anders. Trotzdem lässt sich mein Arbeitsrhythmus – und der der anderen Bundestagsabgeordneten wahrscheinlich auch – in zwei Säulen unterteilen:

  1. Wir sind ein- bis zweimal im Monat die komplette Woche in Berlin, denn da findet die Sitzungswoche des Deutschen Bundestags statt. Während dieser Zeit tagen auch die Ausschüsse und Gremien, in denen wir tätig sind. Das sind bei mir unter anderem der Innenausschuss und auch die Fraktionssitzung, wo wir uns mit Kollegen und Kolleginnen der eigenen Fraktion über diverse Themen austauschen. Darüber hinaus findet das Plenum – die Parlamentssitzung – statt. In dieser Woche finden aber auch alle anderen Gespräche statt, die Abgeordnete auf ihrer Agenda haben.

Zum Beispiel: Sie haben es gesagt, ich bin für Migrations- und Integrationspolitik zuständig. Ich bin aber auch für das Thema Islam zuständig, das heißt, dass viele Dachverbände von muslimischen Organisationen Gesprächsanfragen haben.

Ob Integrationspolitik, Migrationspolitik oder eben Themen rund um den Islam – als verantwortliche Abgeordnete befasse ich mich im Laufe meiner Woche damit.

  1. Wenn ich nicht in Berlin bin, bin ich in meinem Wahlkreis, wo ich ebenfalls Ansprechpartnerin für viele Verbände, Organisationen, aber auch für Bürgerinnen und Bürger bin. Abgeordnete werden im Wahlkreis zu allen Themen befragt, also nicht nur zur Migrations- und Integrationspolitik, sondern auch mal zu beispielsweiser einer Bürgerinitiative, die sich für Fahrradwege einsetzt. Im Wahlkreis betreue ich wirklich alle Themen von A bis Z.

 

Frage:

Würden Sie sagen, dass die Themen, mit denen Sie sich in Berlin beruflich beschäftigen, auch die Themen sind, die Sie persönlich umtreiben?

Frau Polat:

Ja. Vornehmlich habe ich zu Beginn der Legislaturperiode gesagt, dass ich gerne Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik sein möchte. Das sind die Themen, die mich in den letzten Jahren besonders beschäftigt haben, für die ich auch Expertin bin und für die ich gerne auch die Positionen meiner Partei und meiner Fraktion erarbeite.

Mich treiben aber auch andere Themen persönlich sehr um. Das ist zum Beispiel die gesamte Politik rund um das Thema Frauen, Queerpolitik, aber auch die Pflegepolitik. Im Grunde überall, wo ich erkenne, dass Rechte noch nicht voll anerkannt werden. Ich war auch lange pflegepolitische Sprecherin im niedersächsischen Landtag.

 

Frage:

Geboren in Bramsche mit türkisch-deutschen Wurzeln begründeten Sie in Ihrer Jugend bereits die „Grüne Jugend Bramsche“ und traten im selben Jahr auch den Grünen bei. Stand für Sie von Anfang an eine politische Karriere im Mittelpunkt?

Frau Polat:

Nein. Ich wollte überhaupt nicht in die Berufspolitik. Ich wollte in die freie Wirtschaft, da ich Volkswirtschaft studiert habe. Ich war aber immer ehrenamtlich engagiert. Als junges Mädchen war ich zunächst in der Umweltbewegung aktiv. Vor den Grünen war ich bei Greenpeace in einer Kindergruppe und habe dann entschieden, dass ich meiner Ambition nun bei den Grünen nachgehen möchte. Wenn man in einer Partei aktiv ist, dann wird man (zumindest bei den Grünen) schnell gefragt, ob man Verantwortung für ein kommunales Mandat übernehmen will. So habe ich mit 18 schon für die Kommunalwahl kandidiert – natürlich ehrenamtlich. Insgesamt war ich 20 Jahre ehrenamtlich in der Kommunalpolitik aktiv. Dass ich dann Berufspolitikerin geworden bin, war eher Zufall.

 

Frage:

Gab es jemals einen Moment, in dem Ihnen Menschen aufgrund Ihrer scheinbar „türkischen“ Herkunft Erfolgschancen abgesprochen haben?

Frau Polat:

Die türkische Herkunft hat auch Erfolgschancen mit sich gebracht. Und sowohl in der Kommunalpolitik als auch als Berufspolitikerin im Landtag war ich immer die Jüngste. Da hatte ich eher den Eindruck, unterschätzt zu werden. Oft kam es zu Überraschungsmomenten, weil ich aufgrund meines jungen Alters unterschätzt und dennoch als qualifiziert wahrgenommen wurde. Ob ich aufgrund des Alters oder aufgrund meiner Herkunft unterschätzt wurde, kann ich gar nicht sagen. Ich weiß nicht, was andere denken. Aber das war auch ein Vorteil, denn so konnte ich die Gegenseite immer überraschen.

Die Kombination Alter und Geschlecht – da stößt man schnell auf Vorurteile.

Frau Polat:

Genau, das stimmt. Die Dimension Alter und das weibliche Geschlecht haben eine entscheidende Rolle gespielt. Ich habe zwar auch Rassismus erfahren, aber tatsächlich häufiger Sexismus – auch in der Politik.

 

Frage

Für viele Menschen ist die Frage nach der Herkunft, der religiösen Identität und der kulturellen Zugehörigkeit eine immer noch bedeutende Frage. Wie stehen Sie zu diesen Beschreibungsmerkmalen?

Frau Polat:

Diversität und Herkunft muss man nicht leugnen. Es gibt immer eine Selbstbeschreibung und eine Fremdzuschreibung.

Bei letzterer ist das Problem, dass fremde Personen aufgrund bestimmter Attribute wie einer offensichtlich anderen Herkunft, Aussprache usw. eine vermeintliche Zuschreibung machen. Sprich: Wenn jemand bspw. arabisch- oder türkischstämmig aussieht, ist die Person auch gleich „Muslim“. Fremdzuschreibungen sind problematisch.

Wenn sich jemand stark über seine Religiosität identifiziert, dann ist das in unserem Land gestattet. Wir haben eine Religionsfreiheit. Aufgrund dieser Freiheiten darf jeder und jede so leben, wie er und sie will und kann sich auch identifizieren mit was und mit wem er und sie will.

 

Frage:

Im Rahmen der Kampagne #EinWirFürAlle sprechen Sie sich gezielt gegen Rassismus aus. Hat denn Deutschland Ihrer Meinung nach ein Rassismusproblem und wie kann dieses Ihrer Meinung nach überwunden werden?

Frau Polat:

Wie kann man Rassismus überwinden? Ich würde sagen, das kann man nie überwinden. Wir müssen Antirassismus und Rassismuskritik in uns und unserer Gesellschaft verankern.  Um eine rassismuskritische Gesellschaft zu sein, muss man erstmal einen gesellschaftlichen Konsens darüber haben, dass wir rassistische Strukturen und dadurch bedingt auch Machtverhältnisse haben, die über Jahrhunderte tradiert sind und festgeschrieben wurden.

Viele wissen gar nicht, wie viele rassistische Strukturen über Jahrhunderte manifestiert wurden. Es fängt bei der Sprache an und hört in unseren bestehenden Denkmustern auf. Das ist nicht so einfach zu überwinden. Es gibt auch Menschen, die im Zweifel gar keinen Bedarf sehen, sich damit auseinanderzusetzen, weil sie privilegiert sind und schlussendlich gut leben. Die Anderen, die in der Minderheit sind und unter einer rassistischen Gesellschaft leiden, fordern zwar eine Umstrukturierung ein, stoßen aber auf eine desinteressierte privilegierte Schicht.

Der entscheidende Faktor kommt der Politik zu: Die Politik muss Prozesse gestalten und Mittel zur Verfügung stellen, damit ein Umdenken in der Gesellschaft überhaupt erst möglich ist. Wir fordern von der Bundesregierung eine kohärente Strategie und konkrete Maßnahmen gegen Rassismus, die alle politischen Ebenen und Politikbereiche mitdenkt. Dazu gehören als erste Schritte unbedingt eine Reform des Antidiskriminierungsgesetzes, ein Demokratiefördergesetz und ein besonderer Schutz für Opfer rechter Gewalt. Außerdem die Förderung von wissenschaftlichen Studien über die Lebensrealitäten von Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland und Studien zu Racial Profiling. Deutschland hat im Übrigen noch nie unser koloniales Erbe kritisch hinterfragt und systematisch aufgearbeitet.

An all diesen Faktoren arbeiten wir gerade.  Die Lösungen kommen leider nicht von heute auf morgen.

 

Frage:

Als islamischer Wohlfahrtsverband erleben auch wir in unserer alltäglichen Arbeit, wie Menschen, aber auch Behörden uns mit Skepsis und teils enormen Vorbehalten gegenüberstehen. Auch im Rahmen unserer Antidiskriminierungsstelle wird von Fällen des antimuslimischen Rassismus berichtet. In diesem Zusammenhang sehen wir der Entscheidung des Innenministeriums zur Gründung eines Ausschusses zu Muslimfeindlichkeit mit Spannung entgegen. Sehen Sie dies als ein Zeichen in die richtige Richtung? Was erhoffen Sie sich als „Ansprechpartnerin für die Belange des Islam“ dadurch?

Frau Polat:

Das Bundesinnenministerium und überhaupt die Bundesregierung fängt nun endlich an, sich mit dem Phänomen Muslimfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus auseinanderzusetzen. Das ist auch gut so. Unsere Befürchtung ist nur, dass durch den Einsatz des Expert*innenkreis innerhalb der nächsten zwei Jahre, so lange der Expert*innenkreis tagt, nichts geschieht. Da die Vorbehalte des Rassismus gegenüber Muslim*innen im Vergleich zu anderen Gruppen in Deutschland sehr hoch ist, können wir nicht so lange auf Ergebnisse oder Empfehlungen warten. Es gibt jetzt schon die Notwendigkeit, politische Maßnahmen umzusetzen, um antimuslimischem Rassismus entgegenzutreten. Wir hoffen, dass es bereits nächstes Jahr einen Zwischenbericht gibt, so dass die nächste Bundesregierung in den Haushaltsverhandlungen 2021 Blöcke einschlägt, damit wir gegen antimuslimischen Rassismus in diesem Land handeln können.

 

Frage:

Unser Ziel ist es nicht nur die öffentliche Wahrnehmung von Musliminnen und Muslimen aktiv zu verbessern, sondern auch junge Menschen zu engagieren, ihren Beitrag für mehr Miteinander zu leisten. Was würden Sie jungen, engagierten Menschen auf den Weg geben? Etwas, was Sie auf Ihrer Laufbahn besonders geprägt hat?

Frau Polat:

Wenn junge Musliminnen und Muslime sich engagieren wollen, müssen sie natürlich schauen, wo sie sich engagieren wollen.

  1. Muslim*innen engagieren sich häufig in Selbstorganisationen. Es gibt zum Beispiel den Verband „CLAIM“, welcher sich explizit gegen antimuslimischen Rassismus einsetzt, oder die Junge Islam Konferenz.
  2. Dann wiederum gibt es Verbände, die im sozialen Bereich aktiv sind, so wie An-Nusrat als Wohlfahrtsverband und natürlich auch Religionsgemeinschaften, die nicht nur religiöse Dienste anbieten, sondern auch Projekte für den interreligiösen Dialog oder das Miteinander in einer Stadt oder Kommune.
  3. Junge Muslim*innen können sich in Parteien engagieren, bspw. in bestimmten Arbeitskreisen, wo der Austausch speziell zum Thema Verhältnis von Religion und Staat stattfindet.

Ich kann junge Muslim*innen nur dazu ermutigen, sich in der Öffentlichkeit zu engagieren. Muslim*innen sind in der deutschen medialen Öffentlichkeit sehr oft mit negativen Zuschreibungen behaftet und es wird nur wenig über das vielfältige muslimische Leben berichtet. Muslim*innen können versuchen, das Bild zu verändern und ein anderes zeigen. Dazu benötigen sie selbstverständlich Unterstützung und die notwendige Infrastruktur, was sie im Zweifelsfall bei der Politik einfordern oder in Lobbyorganisationen einbringen, die es dann einfordern.

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