Wohlfahrt in der frühislamischen Zeit

Islamische Wohlfahrt ist das Streben und das Bemühen um die Deckung der sozialen Grundbedürfnisse von Menschen. Der Impuls zu helfen, kommt dabei von der islamischen Lehre. Die Idee der „Islamischen Wohlfahrt” ist nicht neu, sie existiert bereits seit der Gründung des Islams, im frühen 7. Jahrhundert. Der Prophet Muhammadsaw gehörte bereits in der vorislamischen Zeit dem sogenannten „Hilf al-Fudul“ einem Bündnis tugendhafter Menschen an, die bestrebt waren, all jenen zu helfen, die unterdrückt wurden und ihrer Rechte beraubt wurden. Im Islam selbst sind die grundlegenden Wohlfahrtsaufgaben in unterschiedlichen Textpassagen des Korans vorhanden. Darunter fällt auch der folgende Vers:

„Und sie geben Speise, aus Liebe zu Ihm, dem Armen, der Waise und dem Gefangenen, auch wenn sie selbst notleidend sind, indem sie sprechen: Wir speisen euch nur um Allahs Willen. Wir begehren von euch weder Lohn noch Dank.“ (Quran: 76:9-10)

Der Prophet Mohammad (saw) sagte um 600 n. Chr.:

“Eine gute Tat ist die, die auf dem Antlitz des anderen ein Lächeln erscheinen läßt.” (Al-Jame-ul-Kabeer, Band 1, Kapitel 36, Hadith Nr. 1956)

Der Islam bekräftigt jedoch auch die ursprünglichen Erzählungen des alten und neuen Testaments, so dass wir auch aus den Lehren von Jesus (as) und Moses (as) unsere Motivation für die gemeinnützige Arbeit schöpfen.

 

Wohlfahrt in Deutschland

In Deutschland herrscht ebenfalls eine lange Tradition der Hilfsbereitschaft und des Für-Einander-Einstehens, die wesentlich von wohlfahrtsstaatlichen Strukturen in Kooperation mit Wohlfahrtsverbänden als Vertreter der Zivilgesellschaft geprägt ist. Kennzeichnend dafür ist, dass staatliche Maßnahmen eng mit dem sozialen Engagement und Hilfsstrukturen aus der Bürgergesellschaft verknüpft sind. Die Religionsgemeinschaften spielen mit ihren caritativen Organisationen hier neben anderen eine wichtige Rolle. Die Diakonie und die Caritas als Wohlfahrtsverbände der evangelischen bzw. katholischen Kirche wurden bereits im 19. Jahrhundert gegründet. Auch die ZWST (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden) wurde bereits vor über 100 Jahren in Deutschland gegründet.

Diese Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft prägt also die Struktur der hiesigen Wohlfahrtslandschaft. Sozialgesetze legen bspw. explizit fest, dass Träger der Wohlfahrtpflege eine wichtige Säule in der Herstellung sozialer Teilhabe sind. So gibt es heute eine etablierte Struktur von anerkannten Trägern der Wohlfahrtpflege, die gemäß den vom Staat definierten Zielen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten.

 

Muslime in Deutschland auf dem Weg von der Spende zur Wohlfahrt

Obgleich bereits während der Weimarer Republik einige muslimische Gruppierungen versuchten sich zu etablieren, organisierten sich viele Muslime erst in der Nachkriegszeit. Die verschiedenen muslimischen Organisationen versuchten auf ihre Art und Weise Muslimen wie Nicht-Muslimen zu helfen. Finanziert wurden diese Maßnahmen meist durch Spendeneinahmen (Mitgliedsbeiträge, Sadqa und Zakat), die ein zentrales Element bzw. auch eine Säule des Islams darstellen. Im Alltag praktizieren Muslime diese „Kultur der Spende“ individuell, indem sie Armen Geld geben, Nachbarn ihre Zeit spenden oder in anderer Weise helfen. Kollektiv organisieren sich viele in Gemeinschaften und widmen sich Armenspeisungen oder sammeln Spendengelder für konkrete Hilfsmaßnahmen vor Ort oder im Ausland. Meist geschah und geschieht dies im Kontext von Moscheevereinen, in einigen Fällen werden auch eigene gemeinnützige Vereine gegründet.

Somit nahmen diese Organisationen theoretisch die Aufgaben der allgemeinen Wohlfahrtspflege zwar wahr, jedoch konnten diese Aufgaben praktisch nicht in die hiesige Wohlfahrtsstruktur etabliert werden.

 

Der erste islamische Wohlfahrtsverband in Deutschland

Der Impuls für die Gründung eines islamischen Wohlfahrtverbandes kam aus dem Kontext der Deutschen Islamkonferenz. Bereits seit 2016 wurde die Idee eines eigenen Wohlfahrtsverbands von Muslimen diskutiert und als ein Beitrag für die fruchtbare Kooperation zwischen Staat und muslimischen Gemeinden in Deutschland betrachtet. Vor dem Hintergrund wurde nach einer Vorbereitungs- und Strukturierungsphase An-Nusrat e.V. als erster islamischer Wohlfahrtsverband im Jahr 2018 durch die Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland KdöR (AMJ) gegründet. Am 23. Dezember 2018 wurde die Satzung beschlossen und am 22. Februar 2019 An-Nusrat e.V. die Gemeinnützigkeit gem. § 52 AO anerkannt. Seit dem 1. März 2019 ist An-Nusrat e.V. in Vereinsregister des Amtsgerichtes Frankfurt am Main eingetragen.

Der Verband kann an viele Projekte unmittelbar anknüpfen, die bereits seit 2016 in Zusammenarbeit mit BMI, dem BMFSFJ und dem Goethe Institut in den Bereichen der Wohlfahrtsdienstleistungen in der sozialen Arbeit angeboten wurden. Das ermöglichte auf eine vernetzte Struktur von aktiven Förderern aufzubauen, weshalb in kurzer Zeit neben dem Hauptsitz des Verbands in Frankfurt am Main auch in den einzelnen Kommunen und Bundesländern weitere Untervereine entstehen konnten.

Heute ist An-Nusrat e.V. als Bundesverband organisiert und hat mehrere muslimische, migrantische und auch nichtkonfessionelle Mitgliederorganisationen unter sich. Die Regional und Landesverbände von An-Nusrat e.V. sind in den jeweiligen Bundesländern eigenständig organisiert und bieten Dienstleistungen der freien Wohlfahrtspflege an. Der Bundesverband beteiligt sich aktiv an der Sozialpolitik und hat feste Regelstrukturen in Deutschland etabliert. Die Angebote von An-Nusrat werden nicht nur von muslimischen und alevitischen Menschen in Deutschland in Anspruch genommen, sondern auch von Nicht-Muslimischen Menschen. Die Dienstleistungen von An-Nusrat sind für alle Menschen offen. Auch die Beschäftigung bei An-Nusrat als Arbeitgeber, ist nicht nur Muslimen vorbehalten, sondern An-Nusrat unterstützt nachdrücklich die betriebliche Beteiligung aller Menschen.

Muslime werden zu Gestaltern der Zivilgesellschaft

Der Gründer der AMJ Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad (as) beschrieb bereits den Umgang mit und in einer Gesellschaft wie folgt:

“Seid freundlich und sanftmütig und tolerant, mitfühlend mit allen, wohlwollend für eure Mitmenschen, auf dass ihr angenommen werdet” (Die Arche Noah, S. 38)

Mit der Gründung des Wohlfahrtsverband An-Nusrat greifen Muslime das erste Mal die Tradition sozialer Wohlfahrtpflege als Vorbild für eigene Strukturen auf. Bislang gab es zwar viele Einzelinitiativen, aber keinerlei mit den übrigen Wohlfahrtsverbänden vergleichbare Struktur. Bis auf wenige lokale Ausnahmen gibt es in Deutschland keine mit anderen Religionen vergleichbare öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Bildungsakademien, noch verfügen Muslime über eine annähernd ähnliche Repräsentanz in gesellschaftlichen Gremien wie Rundfunkräten oder politischen Parteien wie bspw. andere Religionsgemeinschaften.

An-Nusrat e.V. möchte als aktiver Gestalter von religions- und kultursensiblen sozialen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Akademien, Altenheimen etc. einen Beitrag zum Wohle der Allgemeinheit leisten.

Auch in der heutigen Zeit werden Muslime regelmäßig dazu aufgerufen, die uneigennützige Wohltätigkeitsarbeit zu leisten und zu fördern. So sagte das weltweite Oberhaupt der AMJ seine Heiligkeit Mirza Masroor Ahmad:

” Die Lehren des Islam vereinen daher die Menschheit und fördern einen Geist der gegenseitigen Liebe und des Respekts zwischen allen Menschen, unabhängig von ihren ethnischen, religiösen oder sozialen Hintergründen. Der Islam ist eine Religion, die Grenzen überwindet und einen friedlichen und toleranten Dialog fördert.” (Ansprache bei der Eröffnung der Masroor Moschee in South Virgina, USA – 03.11.2018)

Mit dem ersten islamischen Wohlfahrtsverband wird deutlich, dass Muslime in der deutschen Gesellschaft nicht nur mit ihren Familien, Moscheen und dem Pass in Deutschland ankommen, sondern sich mit dem Land identifizieren und durch aktive Teilhabe einen zivilgesellschaftlichen Beitrag zu dieser verantwortungsvollen demokratischen Bürgerschaft leisten wollen. Die Übernahme sozialer Verantwortung beantwortet die Frage nach der Vereinbarkeit von Religion und einer säkularen Welt mit der Identifikation gemeinsamer Werte und Ziele, die unterschiedlichen Ursprungs sein können, sich aber jeweils auf die Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz gegenüber, ungerechtfertigte Ungleichheit und den Ausschluss von Menschen treffen. Hier liegt ein Potential zur Entwicklung gemeinsamer Zielsetzungen gesellschaftlicher Akteure für den sozialen Zusammenhalt und das Zusammenleben in Vielfalt.